The Wall – die Mauer

Pestmauer – Mur de la peste

Genosse Ulbricht war 1961 beileibe nicht der Erste, der gegen einen imaginären Feind eine Mauer bauen liess. Das hatten die Oberen von Avignon und des Comtat Venaissin schon 1721 in der Provence gemacht.

Was tatsächlich die Funktion von Ulbrichts Mauer war, ist hinlänglich bekannt. Ihre Bestimmung hat sie allerdings nur teilweise erfüllt, dies aber immerhin unsägliche 28 Jahre lang.
Der Zweck der Pestmauer war von Beginn weg offensichtlich, den erfüllte sie aber überhaupt nicht. Mit deren Fertigstellung im Sommer 1721 war nämlich die Pest trotzdem schon in der Grafschaft Venaissin angekommen.

2020 steckten wir alle in der COVID-19-Pandemie. Suchen im Internet brachte mich zufällig auf eine andere Epidemie, die genau 300 Jahre zurücklag. Irgendwo im Hinterkopf hing noch der Begriff Pestmauer, hängengeblieben von früheren Reisen durch die Provence. Also kam das Thema auf die «Arbeitsliste».

Inhaltsverzeichnis

1. Geschichtlicher Hintergrund
2. Bauart und Lokalisierung
3. Die Pestmauer heute
4. Eine Schweizer Pestmauer?
5. Literatur, Quellen


Geschichtlicher Hintergrund

Die Pest von Marseille im Jahr 1720 war die letzte grosse Pestepidemie in Westeuropa. Als Ursprung der Epidemie gilt das Segelschiff Grand-Saint-Antoine, das aus der Levante (Tripolis, Syrien) kommend, am 25. Mai 1720 im Hafen von Marseille anlegte. Zuvor legte das Schiff eine Irrfahrt zurück, da man es wegen Todesfällen an Bord nirgends anlanden lassen wollte.

Trotz Quarantäne der Passagiere und der Ladung des Schiffs auf der Île de Jarre erreichte die Pest das Hafengebiet und konnte dort nur mit mässigem Erfolg eingegrenzt werden.
Rasch breitete sie sich über ganz Marseille und weiter nach Norden in die Region aus und erreichte auch sehr rasch Apt. In der Grafschaft Venaissin (Hauptstadt Carpentras) entschloss man sich deshalb, sich durch den Bau einer bewachten Mauer in der nur dünn besiedelten gebirgigen Region zwischen den Gorges de la Nesque im Nordosten und Lagnes im Südwesten zu schützen. Die schützende Linie wurde bis zur natürlichen Barriere der Durance nach Saint-Ferréol fortgesetzt.
Trotzdem erreichte die Pest Ende August Avignon und breitete sich von dort in die Grafschaft aus, während sie in Apt schon verschwunden war. Die Mauer sollte nun ihren Zweck in umgekehrter Richtung erfüllen. Die Bewacher aus der Grafschaft wurden auf der anderen Seite der Mauer durch königlich-französische Truppen ersetzt (Avignon und die Grafschaft gehörten dem Heiligen Stuhl).

Auf behördliche Anweisung wurde das Schiff Grand-Saint-Antoine am 25. September 1721 in einer Bucht der Île de Jarre in Flammen gesetzt, brannte aus und versank.

Im Januar 1723 endete die Epidemie, die Pestmauer wurde sich selbst überlassen. In den Folgejahren nutzten die Bewohner der Gegend Material aus der Mauer für eigene Anliegen.


Bauart und Lokalisierung

Die Mauer wurde in der für die Region typischen Bauweise als Trockensteinmauer ausgeführt. Das Material konnte direkt im Umland gewonnen werden, das aus karstigem Kalkstein besteht, teilweise eine dünne Humusschicht trägt und mit Garrigue bewachsen ist.

Die Mauer war 60 cm breit und bis zu 2 m hoch. In sinnvollen Abständen errichtete man kleine Schutzbauten für die Wachposten und grössere gedeckte Unterkünfte für Offiziere und Wachpersonal. Insgesamt gab es 108 solcher Bauwerke, alle ebenfalls in Trockenbauweise.

Das Nordostende der Mauer lag auf dem Pas du Viguier bei Saint-Hubert. Von dort zog sie sich 27 km in südwestlicher Richtung bis Bourbourin bei Cabrières-d’Avignon. Die Bauweise im weiteren Verlauf bis Saint-Ferréol bestand aus einem Graben mit davor stehender Palisade und Erdaufschüttung. Die gesamte Sperreinrichtung wurde von rund 1000 Soldaten bewacht.


Die Pestmauer heute

Die Mauer und ihre Bauwerke zerfielen seit 1723, Steine wurden für Bauwerke der regionalen Bewohner weiterverwendet. Erst 1986 begann die Vereinigung Pierre Sèche en Vaucluse sich um die Mauerreste zu kümmern und Teile davon zu restaurieren und für Wanderer zu erschliessen.

Der Wanderweg GRP Massif du Ventoux folgt der Pestmauer weitgehend. Und auf Satellitenbildern ist die Mauer auch bis auf kürzere Streckenabschnitte nachzuverfolgen.

Leicht zu erreichen sind die beiden Punkte Bourbourin (216 m ü. M.) und der Col de la Ligne (756 m ü. M.), wo jeweils auch Schautafeln Einblick in Geschichte und Entstehung der Pestmauer geben. Der südwestliche Abschnitt ist schon eher touristisch, wohingegen die nordöstlichste Strecke bis zum Pas du Viguier bei Saint-Hubert noch die wilde, unberührte Landschaft auf dem Plateau de Vaucluse zeigt.
Ihren höchsten Punkt erreicht die Mauer kurz vor dem Pas du Viguier mit 871 m ü. M.

            

1992 entdeckte man anhand von Spuren, dass sich die Mauer wohl noch von Bourbourin bis zum Weiler la Baume oberhalb der Ebene des Calavon weitergezogen hatte.


Eine Schweizer Pestmauer?

Nicht primär. Die Landmauer Gamsen bei Brig im Kanton Wallis diente in erster Linie der Verteidigung des Oberwallis gegen Angriffe aus dem Westen. Aber in Zeiten von Seuchen konnte sie auch das Tal oberhalb der Mauer vor solchen schützen.
Durch gleichzeitiges Schliessen der Passübergänge konnte sich so das Oberwallis zwischen Brig und Gletsch komplett isolieren.

Und etwas verbindet diese zwei Mauern: Avignon und die Grafschaft Venaissin liegen am Unterlauf der Rhône, Gamsen am Oberlauf derselben, im Walliser Dialekt der Rotten genannt.
Der später erfolgreiche Unternehmer und Politiker Kaspar Stockalper war in seinen jungen Jahren – um 1629 – unter anderem Kommissar der Pestwache an der Gamsenmauer.


Literatur, Quellen

  • Collectif: La Muraille de la Peste. Édition Pierre Sèche en Vaucluse/Les Alpes de Lumière, Saumane/Mane 1993, ISBN 978-2906162259.
  • Artikel auf der Website von Pierre Sèche en Vaucluse.
  • Schautafeln vor Ort