Michel Hollard

«the man who literally saved London»
«der Mann der buchstäblich London rettete»

Einstieg

Auf den Namen Michel Hollard stiess ich im Rahmen meiner Recherchen zu den deutschen V-Waffen (siehe V1, Fieseler Fi 103). Beim Besuch der V1-Feuerstellung 685 im Val Ygot zog beim Eingang zum Gelände das kleine Foto eines Mannes und die Schlagworte «L'homme qui sauva Londres» auf der Infotafel meine Aufmerksamkeit auf sich.

Erst nach und nach wurde mir bewusst, welche Bedeutung Hollard mit seinen Leuten für den Verlauf des Zweiten Weltkriegs ab Frühjahr 1944 und damit für uns alle in einem heute freien Europa hatte. Was er und seinesgleichen taten, verdient unseren uneingeschränkten Respekt.

Dwight D. Eisenhower beurteilt in seinem Buch Crusade in Europe die Situation bezüglich der V1 mit den Worten:
«It seemed likely that, if the German had succeeded in perfecting and using these new weapons six months earlier than he did, our invasion of Europe would have proved exceedingly difficult, perhaps impossible. I feel sure that if they had succeeded in using these weapons over a six-month period, and particularly if they had made the Portsmouth-Southampton area one of their principal targets, OVERLORD might have been written off.»[1]

Das von Hollards Sohn Florian verfasste Buch[A1] über seine Tätigkeit von 1941 bis 1945, ebenso das viel früher erschienene von George Martelli, enthalten Spannung, wie sie eben nur das wahre Leben vermitteln kann; mancher Krimi wird daneben fad erscheinen. Erstaunlich deshalb, dass Michel Hollard und die Literatur über einen wichtigen Abschnitt seines Lebens im deutschsprachigen Raum wenig bekannt waren. Erst ab den späten 2010er-Jahren nahm das Interesse an ihm zu.

Dass man ihm sogar in Frankreich lange Zeit die ihm zustehende breite Anerkennung versagte, mag damit zu tun haben, dass Michel Hollard unabhängig und nicht im Rahmen der Résistance agierte. Dies wurde vom offiziellen Nachkriegs-Frankreich nicht goutiert (Pierre Pamard z. B., ein Agir-Mitglied, wurde nach der Befreiung von Mitgliedern der Résistance wegen angeblicher Kollaboration mit den Besatzern erschossen). Dazu kommt, dass Hollard selbst bis zu seinem Tod kein Aufheben um seine ausserordentlichen Leistungen machte.
Auch wenn das heutige Frankreich versucht, die eigene Verhaltensweise nach dem Krieg zu korrigieren, bleibt diesbezüglich ein schaler Geschmack. In manchem Zusammenhang wird versucht, Hollard nachträglich als Mitglied der Résistance einzuverleiben. Ein Beispiel dafür ist die Inschrift auf seinem Grabstein. Es heisst dort nicht «Chéf du réseau de résistance "AGIR"», sondern «Chéf du réseau de la Résistance "AGIR"». Da wird versucht Einheitlichkeit darzustellen, die so nicht bestand.

Den Artikel habe ich in einer Grundversion auch Wikipedia zur Verfügung gestellt. Der Text hier ist jedoch erweitert und enthält zusätzliches Bildmaterial. Die Fotos der Gedenktafeln in Paris hat ein Bekannter für mich realisiert – merci Gilles.
Leider kursieren im Internet etliche Halbwahrheiten, Bilder mit falschen Legenden sowie schlecht recherchierte Texte zu diesem Thema. Durch ausführliche Sichtung vorhandener Quellen (Literatur) und vor allem Recherchen vor Ort habe ich versucht, solche Fehler zu vermeiden und/oder richtigzustellen.

Inhaltsverzeichnis

1. Leben
2. Rolle als Widerstandskämpfer
3. Auszeichnungen, Ehrungen und Anerkennungen
4. Weitere Bilder
5. Eine besondere Begebenheit
6. Fakten oder täuschende Erinnerung?
7. Quellen, Anmerkungen, Einzelnachweise und Nutzungsbedingungen


Leben

Michel Hollard kam am 10. Juli 1898 als zweites Kind von Professor Auguste Hollard und Pauline Monod in Épinay-sur-Seine (Frankreich) zur Welt. Sein Vater war ein bekannter Chemiker und Kollege so wichtiger Zeitgenossen wie Henri Becquerel, Pierre und Marie Curie, sowie Paul Langevin. Ein Teil der Verwandtschaft mütterlicher- wie väterlicherseits waren Schweizer, was Hollard bei seinen späteren Aktivitäten von grossem Nutzen war. Seine Jugend wurde stark durch dieses familiäre Umfeld geprägt. Darunter waren Persönlichkeiten wie sein Vetter, der spätere Forscher und Humanist Théodore Monod sowie die späteren Nobelpreisträger, die Mediziner Jacques Monod und Daniel Bovet.

Als gläubiger Christ zeigte er seit seiner Jugend gegenüber materiellen Dingen eine grosse Gleichgültigkeit, was von seinem Umfeld oft missbraucht wurde. Die Pfadfinderbewegung, in England durch Lord Robert Baden-Powell gegründet, übte auf den heranwachsenden Michel einen großen Einfluss aus. Sein ganzes Leben lang lebte er den Wahlspruch der Pfadfinder: «Allzeit bereit!». Während seiner Schulzeit schmiedete Hollard Pläne für ein Studium in Richtung Musik oder Literatur. Der sich abzeichnende Krieg überraschte ihn aber 1914 in seinem sechzehnten Lebensjahr und Ziel wurde für ihn, seinem Vaterland zu dienen. Da ein Eintritt in die Armee erst mit siebzehn Jahren möglich war, stellte er sich dem Roten Kreuz als Pfleger zur Verfügung. Als er sich ein Jahr später ein zweites Mal der Musterungskommission stellte, wurde er wegen seiner schwachen physischen Konstitution wieder abgewiesen. Dies bewog ihn, ab sofort seinen Körper durch konsequentes Training zu stärken, was ihn dann später in den Kriegsjahren 1941 bis 45 extreme Strapazen überleben liess. 1916 endlich wurde er zur Rekrutenschule zugelassen und nach deren Abschluss dem 51. Infanterieregiment zugeteilt. Er zeichnete sich durch hohe Tapferkeit aus und wurde dafür als Neunzehnjähriger mit dem Croix de guerre mit bronzenen Sternen ausgezeichnet.

Nach dem Krieg besuchte Hollard eine Ingenieurschule, welche er mit Diplom abschloss. Seine musischen und literarischen Pläne verfolgte er nicht weiter. Neben seiner zivilen Tätigkeit als Ingenieur wurde er auch von der Armee als Ausbilder engagiert und stieg bis zum Hauptmann der Reserve auf. 1922 heiratete er Yvonne Gounelle, die Schwester des im Ersten Weltkrieg gefallenen Schriftstellers und Dichters Henri Gounelle (1894–1915). Gemeinsam haben sie drei Kinder, die Tochter Francine und die Söhne Florian und Vincent.

Bei der Mobilmachung 1939 hoffte Hollard vergebens auf seine Einberufung in eine Kampfeinheit. Die Armee zog es vor, seine Fähigkeiten als Ingenieur zu nutzen und teilte ihn dem Centre d’études de mécanique, balistique et armement in der Region Paris zu. Im Mai 1940 wurde er mit dem übrigen Personal wegen des Einmarschs der deutschen Armee in ein anderes Werk nach Tulle versetzt. Seine Familie war nach Gorniès (Département Hérault) gezogen, eine Gegend aus der die Vorfahren von Yvonne Hollard stammten. Nach dem Waffenstillstand am 25. Juni 1940 kehrte Hollard mit seiner Familie nach Paris zurück, wo er im Centre d’études hätte weiterarbeiten können. Da dies aber einer Tätigkeit für die Deutschen gleichgekommen wäre, lehnte er ab. Bei der neu gegründeten Firma Société de gazogènes Autobloc fand er einen Arbeitsplatz. Diese Anstellung sollte ihm in der Folge die Reisetätigkeit, die für Agir unvermeidlich war, ungemein erleichtern. Die Zeit von 1941 bis 1945 ist in nachstehendem Kapitel beschrieben, da diese massgeblich durch seine Agententätigkeit geprägt ist. Nach dem Krieg arbeitete Hollard wieder als Ingenieur für die Firma Equipement automobile Westinghouse bis zu seiner Pensionierung.

Im Frühling 1993 verliessen Michel und Yvonne Hollard Paris, um den Sommer einmal mehr in Gorniès zu verbringen. Anfang Juli stürzte Hollard im Haus so schwer, dass er in die Klinik Saint-Louis in Ganges eingeliefert wurde. Die Ärzte diagnostizierten einen Oberschenkelbruch. Trotz erfolgreicher Operation verschlechterte sich Hollards Gesundheitszustand einige Tage später. Am 16. Juli 1993 verstarb Michel Hollard im Spital, kurz nach seinem 95. Geburtstag. Er ist auf dem kleinen Friedhof in Gorniès begraben.

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Rolle als Widerstandskämpfer

Agentennetz Agir

Hollards Agentennetz war bis nach dem Krieg ohne Bezeichnung, der Name Agir oder Réseau Agir entstand erst nach Hollards Rückkehr aus der Deportation. Trotzdem wird der Name seither für das Agentennetz Hollards von Beginn seiner Tätigkeit weg verwendet. Als einziges offizielles Attribut während des Kriegs hatte Hollard von den Briten den militärischen Codenamen Z 165 erhalten.

Dank seiner Tätigkeit für die Société de gazogènes Autobloc, welche unter anderem Holzvergaser für Automobile herstellte, eröffnete sich für ihn eine breite Reisetätigkeit. Er sollte nach Holzvorkommen suchen und das Material einkaufen, welches für die Gasproduktion als Ersatz von immer spärlicher verfügbaren Treibstoffen diente. Zusätzlich besuchte er landesweit die Niederlassungen der Firma und wichtige Kunden. Meistens mit dem Zug unterwegs, knüpfte er so in erster Linie Kontakte zu Bahnangestellten, die aufgrund ihrer Tätigkeit Kenntnis von Aktivitäten der Besatzer hatten oder sie zu beschaffen wussten. Hollard bestand von Anfang an darauf, sämtliche Aktionen nur durch persönliche Kontakte zu organisieren und recherchiertes Material nur persönlich weiterzuleiten oder zu übergeben. Er misstraute den Kommunikationsmitteln wie Telefon oder gar Funk und sah darin eine Quelle, dass sein Agentennetz durch den Feind aufgedeckt und dadurch angreifbar würde. Aus diesem Grund war er auch alleiniger Organisator und mied den Kontakt zur Résistance. Den Leuten aber, die er persönlich für seine Sache rekrutiert hatte, brachte er grenzenloses Vertrauen entgegen.

Im Frühling 1941 machte sich Hollard Gedanken, wie er die bis dahin gesammelten Informationen den Alliierten zukommen lassen könnte. Auch hier kam für ihn nur eine persönliche Übergabe in Frage, da er an der Sicherheit von Diplomatengepäck zweifelte. Er entschloss sich, die Informationen in die Britische Botschaft nach Bern zu bringen und begann seine Route minutiös zu planen. Unter dem Vorwand, in den Wäldern der Umgebung nach neuen Holzschlägen Ausschau zu halten, wollte er die Niederlassung von Société de gazogènes Autobloc in Dijon aufsuchen. Ab Dijon plante er, durch die deutsche Sperrzone zur französisch-schweizerischen Grenze zu gehen, diese zu überqueren und nach Bern zu gelangen.
Bei Cusey gelang es Hollard mit Hilfe des Schleusenwärters Arthur Vrignon in die Sperrzone einzudringen. Seine erste Route führte ihn via Dole in die Region von Chaux-Neuve. Über den Rücken des Mont Risoux hoffte er die Grenze queren zu können. Bei Le Pré Poncet wurde er von einer deutschen Patrouille angehalten. Erstaunlicherweise fragte niemand nach seiner Bewilligung für den Aufenthalt in der Sperrzone, jedoch wurde er mit Begleitung zurückgeschickt. Seinen zweiten Versuch startete er weiter nordöstlich. Bei Morteau wandte er sich erneut südlich und erreichte über Montlebon und Derrière le Mont die grenznahe Region, wo er bei der Grange du Vieux Châteleu in der Person des Holzfällers Paul Cuenot einen weiteren Helfer fand.
Nach der heimlichen Überquerung der Grenze meldete sich Hollard bei den Schweizer Zollbehörden von La Brévine. Mit Unterstützung der Schweizer erreichte er am 22. Mai 1941 die Britische Botschaft in Bern. Von den Briten mit Skepsis empfangen, erlangte Michel Hollard deren Vertrauen erst, nachdem er auf Gesuch weitere Informationen lieferte. Insgesamt machte Michel Hollard die Reise von Paris nach Bern und später Lausanne neunundvierzig Mal und passierte die französisch-schweizerische Grenze heimlich an drei weiteren Stellen, zwischen Villars-lès-Blamont und Damvant, zwischen Mijoux und La Rippe sowie zwischen Machilly und Jussy.

Gegen Ende 1941 hatte Hollard schon viele Landsleute für die Mitarbeit in seinem Netz engagieren können. Etliche davon sprangen aber, oft aus familiären Gründen, wieder ab. Das brachte Hollard zu der Erkenntnis, dass es effizienter wäre, wenn er Leute vollamtlich, das heisst gegen Bezahlung, einstellen könnte. Als ersten konnte er Olivier Giran, den Sohn eines Freunds seines Vaters, überzeugen. Giran hatte seine Jugend in La Côte-aux-Fées, einem kleinen Schweizer Dorf nicht weit von Pontarlier, verbracht. Er war somit durch seine Kenntnis der Region bestens geeignet, ebenfalls als Kurier Michel Hollard zeitweise abzulösen. Da Hollard seine Routen nicht aufdecken wollte, organisierte er mit Unterstützung von Schweizer Vertrauten für Giran eine Route die über Verrières-de-Joux und Les Verrières in die Schweiz führte. Im Juni 1942 wurde Olivier Giran, nach Denunziation, als erstes Mitglied von Agir, auf einer seiner Reisen nach Bern von der Gestapo verhaftet. Nach neunmonatiger Haft und Folter wurde der einundzwanzigjährige Olivier Giran am 16. April 1943 auf dem Schiessplatz von Angers erschossen.

Die V1-Feuerstellungen

Die Hauptaktivität von Hollard und seinen Leuten konzentrierte sich rasch auf die Aufklärung dieser neuartigen Bauwerke, deren Funktion zu Beginn weder ihnen noch den Briten klar war. Ein erstes Mal wurde Hollard durch den SNCF-Ingenieur Jean-Henri Daudemard im Sommer 1943 auf solche Baustellen aufmerksam gemacht. Bei der Ferme de Bonnetot – vier Kilometer westsüdwestlich von Auffay gelegen – gelang es ihm, sich als Bauarbeiter getarnt auf der Baustelle umzusehen. Hierbei kam ihm zugute, dass die Deutschen zu diesem Zeitpunkt neben Kriegsgefangenen auch viele französische Bauarbeiter beschäftigten. Mit einem Kompass stellte er die Richtung des markantesten Teils der Anlage, der Schutzmauern der Startrampe, fest. Zurück in Paris überprüfte er anhand einer Landkarte die Richtung: Ziel war London. Die Auswertung weiterer Baustellen erhärtete die Tatsache, dass sämtliche dieser Bauwerke auf Grossbritanniens Hauptstadt gerichtet waren.

Im Oktober 1943 gelang es Hollard, einen jungen Ingenieur namens André Comps auf der Baustelle von Bois Carré einzuschleusen, einer V1-Feuerstellung 1,4 km östlich von Yvrench. Comps, der von Robert Rubenach angeworben worden war, konnte wichtige Baupläne abzeichnen und erstellte eine präzise Skizze der kompletten Anlage in dem kleinen Wäldchen. Diese Unterlagen ermöglichten es letztendlich dem britischen Geheimdienst, die Wichtigkeit dieser Bautätigkeiten entlang der französischen Kanalküste einzustufen.

In derselben Zeit fielen André Bouguet, SNCF-Bahnhofsvorstand und Agir-Mitglied, Transporte auf, die via Rouen nach Norden führten. Ziel dieser Transporte war der Bahnhof von Auffay. Mit Hilfe des dortigen Bahnhofsvorstands René Bourdon und seines Helfers Pierre Carteron konnte Hollard in einen Güterschuppen eindringen, in welchem die transportierten Objekte gelagert wurden. Hollard erstellte genaue Massskizzen der unter Planen verborgenen Geräte. Der SIS stellte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Skizze und einer Fotografie des dänischen Korvettenkapitäns Hasager Christiansen fest, die dieser heimlich von einem Fluggerät gemacht hatte, das am 22. August 1943 auf Bornholm auf einen Rübenacker abgestürzt war. Bornholm war, wie ganz Dänemark, seit dem April 1940 von den Deutschen besetzt.

Die durch Agir beschafften Unterlagen führten zu verstärkter Luftaufklärung der Alliierten, die Feuerstellung von Bois Carré war die erste so aufgeklärte Anlage. Am 22. Dezember 1943 flog schliesslich die RAF erste Angriffe gegen die sich im Bau befindlichen Anlagen. Die V1-Feuerstellungen der ersten Generation wurden somit dank der Agir-Aktionen soweit zerstört oder im Bau behindert, dass die wenigsten von ihnen überhaupt eingesetzt werden konnten. In der Folge änderten die Deutschen ihre Strategie und begannen mit dem Bau leichterer und besser zu tarnender Feuerstellungen.

Gefangennahme, Deportation und Befreiung

Ende Januar 1944 suchte Hollard nach einer längeren Inspektionstour durch Frankreich zum neunundvierzigsten Mal den britischen Militärattaché in Lausanne auf. Es sollte die letzte heimliche Reise und Grenzüberquerung in die Schweiz sein. Am 5. Februar 1944 war ein Treffen wichtiger Agir-Mitglieder im Café des Chasseurs an der Rue du Faubourg-Saint-Denis 176 in Paris geplant. Michel Hollard sass mit Henri Dujarier, Joseph Legendre und Jules Mailly an einem Tisch, als sie von Gestapo-Leuten angesprochen, dann verhaftet und abgeführt wurden. Dank dem sie einige Minuten zu spät zu diesem Treffen kamen, entgingen Madeleine Boulanger, Lucien François und Robert Rubenach der Verhaftung.

Die Verhafteten wurden durch die Gestapo verhört und vorerst im Gefängnis von Fresnes, einem Vorort südlich von Paris inhaftiert. Nach längerer Folter, während der er nichts preisgab, wurde gegen Michel Hollard das Todesurteil gesprochen. Drei Monate nach ihrer Gefangennahme gelang es Joseph Legendre und Henri Dujarier, ihre Freilassung zu erwirken. Jules Mailly wurde zur Deportation verurteilt und verschwand im KZ Mauthausen, das er nicht überlebte.

Das mittlerweile rund hundert Mitglieder zählende Netzwerk Agir wurde nun durch die engsten Mitarbeiter Hollards, den frei gekommenen Joseph Legendre und «Bart», den Hollard mit gebrochenem Rücken in die Schweiz gebracht hatte, geleitet und führte seine Arbeit bis zum Ende des Kriegs weiter.

Nach dreieinhalb Monaten im Gefängnis von Fresnes wurde Hollard eröffnet, dass er deportiert werde. Es blieb ungeklärt, weshalb das Todesurteil gegen Hollard in eine KZ-Einweisung umgewandelt wurde. In der zweiten Maihälfte wurde Hollard in das Camp de Royallieu bei Compiègne verlegt, wo er mit mehr als 2 000 anderen Inhaftierten auf seine Deportation wartete. In der ersten Juniwoche erfolgte der drei Tage dauernde, von der SS überwachte Transport bis zu einem kleinen Bahnhof in der Nähe von Hamburg. Am 7. Juni wurde Michel Hollard unter der Nummer F 33948 in das KZ Neuengamme eingewiesen.

In den folgenden Monaten gelangten vereinzelt Informationen über die Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie und deren Vormarsch gegen Deutschland im Frühling 1945 auch zu den Insassen des KZ Neuengamme. Mitte April 1945 hörten sie zum ersten Mal den Lärm von Geschützen. Zwischen dem 20. und 28. April wurden die rund zehntausend im Lager verbliebenen Deportierten mit Viehwaggons aus dem KZ weggebracht. Hollards Zug erreichte den Hafen von Lübeck (Hollard nennt Travemünde). Die Gefangenen wurden von der SS auf verschiedene Schiffe verbracht, welche als temporäre Gefängnisse dienten, Hollard gelangte so auf das Frachtschiff Thielbek.

Am 30. April 1945 wurden die französischsprachigen Gefangenen von einem SS-Angehörigen aufgefordert, sich auf der Brücke zu versammeln. Keiner der etwa 200 versammelten Franzosen, Schweizer, Belgier und Holländer wusste, weshalb sie selektiert worden waren. Durch die SS bewacht, wurde diese Gruppe auf die Magdalena verbracht, ein unter schwedischer Flagge fahrendes Handelsschiff und entgingen so dem Schicksal der anderen Schiffe. Durch die Matrosen erfuhren die Befreiten während der Überfahrt nach Schweden, dass sie ihr Glück wahrscheinlich Graf Bernadotte, dem Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes zu verdanken hätten.
Die nur etwa 220 Kilometer messende Überfahrt nach Trelleborg dauerte rund drei Tage, da die Ostsee stark vermint war und das Schiff nachts jeweils ankerte. Während der Reise erfuhren die Befreiten, dass Adolf Hitler am 30. April Selbstmord begangen hatte.
Unrühmliche Bekanntheit erlangte im Zusammenhang mit dieser Episode die Tragödie des Passagierschiffs Cap Arcona, das mit 4 600 KZ-Häftlingen (die Zahl schwankt je nach Quelle) am 3. Mai 1945 versehentlich von alliierten Flugzeugen in der Lübecker Bucht versenkt wurde, wobei fast alle Personen an Bord ums Leben kamen. Ebenfalls versenkt wurde der Frachter Thielbek, auf dem 2 750 Menschen umkamen und die Deutschland, ein Passagierschiff, das zu Beginn des Jahres 1945 in ein Spitalschiff umgebaut worden war.

Stellenwert der Agir-Aktivitäten

Um den Stellenwert der Agir-Aktivitäten genügend würdigen zu können, muss man einen Blick auf die Situation im Frühjahr 1944 in Nordfrankreich und England werfen.

Seit der Casablanca-Konferenz im Januar 1943 liefen verschiedene Vorbereitungen der Alliierten zur Invasion des Kontinents an den Küsten Nordfrankreichs von der britischen Kanalküste aus. Dazu war ein Funktionieren der britischen Häfen in diesem Bereich absolut unabdingbar.
Im Mai 1944 war der Ausbau der V1-Feuerstellungen weit fortgeschritten und Stellungen zwischen den Départements Seine-Maritime und Manche waren zum Teil dazu vorgesehen, die Hafenstädte Portsmouth, Southampton, Bristol und Plymouth anzugreifen.

Die ersten V1-Starts gegen London erfolgten in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 1944, also eine Woche nach der Landung der Alliierten in der Normandie. Nicht auszudenken wie sich die Lage entwickelt hätte, wenn die V1 zwei bis drei Monate früher einsatzbereit gewesen wäre und/oder die Invasion nochmals hätte verschoben werden müssen!

Das «Ende» von Agir

Am 14. Februar 2009 verstarb Joseph Brocard (alias «Bart»), letztes überlebendes Mitglied von Agir und enger Vertrauter von Michel Hollard, im Alter von 88 Jahren.

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Auszeichnungen, Ehrungen und Anerkennungen

Auszeichnungen

  • Commandeur de la Légion d'Honneur (C. LH), 1987
  • Médaille de la Résistance
  • Croix de guerre 1914–18
  • Croix de guerre 1939–45
  • Distinguished Service Order (DSO), Verleihung durch Georg VI.

Ehrungen und Anerkennungen

  • Der britische Generalleutnant Sir Brian G. Horrocks sprach von Michel Hollard als «the man who literally saved London» (deutsch «der Mann der buchstäblich London rettete»), was dazu führte, dass George Martelli sein Buch, welches ursprünglich den Titel Agent Extraordinary trug, ab der zweiten Auflage umbenannte.
  • An der Rue du Faubourg-Saint-Denis 176 in Paris erinnert am ehemaligen Café des Chasseurs, eine Marmortafel an die Verhaftung von Hollard und seiner drei Mitstreiter vom 5. Februar 1944 durch die Gestapo.[2]
  • An der Rue de Bercy 207 in Paris, wo im Hotel d’Annecy die Kommandozentrale von Agir eingerichtet war, liegt heute eine Gedenktafel mit den Namen der 20 Agir Mitglieder, welche zwischen 1943 und 1945 durch Nazi-Deutschland umkamen. Schon 1946 brachte Henri Dujarier eine erste Tafel an. Die heutige Tafel ersetzt nach dem Abriss des Hotels die 1961 von der Stadt Paris an der Hauswand angebrachte Marmorplatte.[3]
  • In Auffay trägt der Bahnhofplatz seinen Namen.
  • In Montlebon ist eine Strasse nach Michel Hollard benannt.
  • Eine Tafel an der Auberge du Vieux Châteleu weist auf den Beginn der Agir-Aktionen hin.
  • Auf dem Pont Charlemagne in Mijoux erinnert ein Gedenkstein unter anderem an Michel Hollard und seine Helfer Denis und Alice Poncet.
  • Bei Machilly ist der Weg entlang der französisch-schweizerischen Grenze nach ihm benannt.
  • Der Gemeindepark in Gorniès trägt seinen Namen und ein Gedenkstein erinnert an seine Verdienste.
  • Am 27. Februar 2004 wurde von Eurostar International Ltd. die Zugkomposition 3207/08, die zwischen Bourg-Saint-Maurice und London verkehrt, auf den Namen Michel Hollard getauft.[4]
  • Seit Oktober 2022 verbindet der sieben Kilometer lange Michel Hollard Gedenkwanderweg La Brévine (CH) mit Louadey (F) → 9 Infotafeln entlang des Wegs.

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Weitere Bilder

                            

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Eine besondere Begebenheit

Als ich Ende Mai 2011 bei meinen Recherchen im Raum Machilly – Jussy östlich von Genf auf der Suche nach Hollards dritter Möglichkeit die Grenze zu queren war, wollte sich mir die Örtlichkeit um keinen Preis erschliessen. Leute die ich fragen konnte waren kaum zu finden und diejenigen die ich ansprach, konnten mir keine Auskunft geben. Ich hatte die Gegend weiträumig abgefahren und abgegangen und dachte schon ans Aufgeben.


Irgendetwas bewog mich, den Grenzweg nochmals entlangzufahren. Bei einem alten Bauernhaus – beim Grenzstein 153 – hielt ich an, stieg aus und sah einen älteren Mann am Fenster im oberen Stockwerk herausschauen, der einen sehr vitalen Eindruck auf mich machte. Ihn fragte ich: «Est-ce que le nom Michel Hollard vous dit quelque chose?» Er lächelte und antwortete: «C’est un ami!»
Er stieg zu mir herunter und es stellte sich heraus, dass ich mit Claude Neury sprach, der zusammen mit weiteren Personen als Jüngling Hollard half, hier die Grenze heimlich zu queren. Selbstredend konnte er mir den genauen Ort zeigen, wo dies damals geschah. Auch darauf, dass der Grenzweg Chemin Michel Hollard heisst, machte erst er mich aufmerksam.

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Fakten oder täuschende Erinnerung?

Was hat Hollard zu welchem Zeitpunkt in Auffay gesehen?

Diese Frage rund um Hollards Aktivitäten in Auffay und der heutigen Darstellung derselben ergibt sich aus etlichen Widersprüchen.

Fakten

  • Die V1-Offensive gegen London startete erst Mitte Juni 1944, nach der Landung der Alliierten in der Normandie.
  • Die drei in einem Radius von 5 km um Auffay liegenden V1-Feuerstellungen (686, 690 und 695) waren Stellungen der ersten Generation, welche vor einem möglichen Einsatz bereits weitgehend zerstört waren.
  • Der Transport von V1-Geräten erfolgte in ganzen Zügen von Deutschland aus in die Versorgungsstellen in Frankreich.
  • Die am nächsten zu Auffay gelegenen Versorgungsstellen waren 1007 in Biennais und 1011 in Montérolier. Beide südlich von Auffay gelegen und mit näherliegenden Entladebahnhöfen an den Strecken Amiens-Le Havre resp. Rouen-Dieppe.
  • Hollard erwähnt Transporte die vom südlich gelegenen Rouen nach Norden über Auffay führten.
  • Hollard spricht vom Eindringen in einen Güterschuppen des Bahnhofs Auffay um dort abgedeckte Objekte auszumessen und zu skizzieren.
  • Hollard meldete Informationen über unbekannte Anlagen und Geräte ab Herbst 1943 via die Britische Botschaft in der Schweiz nach Grossbritannien.
  • Auf der Infotafel bei der V1-Feuerstellung 685 im Val Ygot ist die Rede von in einer Zuckerfabrik in Auffay gelagerten Geräten.
  • Heute steht im Bahnhof von Auffay ein kleiner Schuppen unter Schutz, der derjenige sein soll, in dem Hollard die unbekannten Geräte entdeckte und beschrieb.

Unklarheiten respektive Fragezeichen

  • Gelangten im Herbst 1943 schon Geräte in diese Region? Wenn ja, in welchem Umfang und zu welchem Zweck?
  • Im Herbst 1943 war die V1 noch nicht einsatzbereit. Könnten «V1-Dummies» vor Ort gebracht worden sein, um Transport-, Ablauf- und Einsatzbedingungen rund um die Feuerstellungen (der ersten Generation) zu verifizieren?
  • Der kleine Schuppen in Auffay ist aussen 8,5 m lang. Die V1 wurden zu Dreien auf rund 10 m langen Bahnwagen transportiert. Das Gerät ist im Transportzustand rund 8,25 m lang. Wie passt solch ein Wagen oder auch nur ein einzelnes Gerät in diesen Schuppen?
    Oder handelte es sich bei dem Schuppen doch eher um ein Gebäude auf dem Gelände der südlich des Bahnhofs gelegenen Zuckerfabrik?

Was also hat es mit den Geschehnissen im Herbst 1943 rund um Auffay tatsächlich auf sich? Was ist Tatsache, was täuschende Erinnerung und was Legendenbildung?
Da bleiben Fragezeichen stehen!

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Quellen, Anmerkungen, Einzelnachweise und Nutzungsbedingungen

Literatur

  • George Martelli: Agent Extraordinary - the story of Michel Hollard, D.S.O., Croix de Guerre. Collins, London 1960, LCCR 60051888. (englisch)
  • Reginald Victor Jones: Most secret war. Hamish Hamilton Ltd, London 1978, ISBN 0-241-89746-7. (englisch)
  • Jean-Pierre Richardot: Une autre Suisse 1940 1944 - Un bastion contre l’Allemagne nazie (Kapitel 9, Seite 175 bis 191). Labor et Fides/Editions du Félin, Genève 2002, ISBN 2-8309-1021-4. (französisch)
  • Florian Hollard: Michel Hollard, le Français qui a sauvé Londres. Le Cherche Midi, Paris 2005, ISBN 978-2-7491-0387-7. (französisch)
  • Florian Hollard: Michel Hollard - Der Retter von London. Huber, Frauenfeld/Stuttgart/Wien 2008, ISBN 978-3-7193-1487-3.
  • Dwight D. Eisenhower: Crusade in Europe. William Heinemann Ltd, Melbourne : London : Toronto 1948, UK reprint January 1949. (englisch)
  • Jed Falby: Le Train de Michel. PiXZ Books Halsgrove Publishing, Wellington Somerset 2015, ISBN 978-0-85710-094-8. (englisch, in Comic Form)

Websites

  • FranceArchives, Archives du Comité d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale – Résistance intérieure : mouvements, réseaux, partis politiques et syndicats, Réseau Agir (72AJ/35-72AJ/89 - 72AJ/35); Originaldokumente über Hollands Agentennetz. Abgerufen 2019-04-12.

Anmerkungen

A1 Das Buch ist auf Deutsch erhältlich unter dem Titel Michel Hollard - Der Retter von London: Als Freiheitskämpfer gegen die Geheimwaffe V1. Verlag Huber Frauenfeld 2008, ISBN 978-3-7193-1487-3.

Einzelnachweise

1 Dwight D. Eisenhower: Crusade in Europe, Seite 284 → siehe Literatur.
2 Foto: Gilles Carré / Wikimedia Commons / CC-by-sa-3.0.
3 Foto: Gilles Carré / Wikimedia Commons / CC-by-sa-3.0.
4 Fotos: © Press Office Eurostar.

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